- Kirchenprovinz Ostpreußen mit Sitz in Königsberg
- Kirchenkreis Tilsit-Ragnit (ev.), deckungsgleich mit dem Landkreis
- Diözese Ragnit
- Kirchspiel gegründet 1897
- Kirche geweiht 1904
- Lage: südwestlich im Dorf an der Dorfstraße, gegenüber des Friedhofes
- erster Pfarrer Eduard Sinnhuber
- letzter Pfarrer Gerhard Walther
Das Kirchspiel Großlenkenau und seine Jubiläumskirche
Ein Beitrag von Bernd Bönkost
Geschrieben für LadM Heft 111 Weihnachten 2022
Ausgangspunkte für diesen Artikel waren Unterlagen, die mir von meiner Vorgängerin als Kirchspielvertreter, Frau Friz, überlassen wurden sowie ein Buch über meine Gemeindekirche in Löhne-Obernbeck von unserem früheren Gemeindepfarrer, Herrn Scheiding. Beides lud zu Vergleichen und weiteren Untersuchungen ein.
Bei der Vorbereitung fiel mir wieder eine alte Karte des Kreises Ragnit in die Hände. Beschriftet ist sie mit
KARTE des RAGNITER KREISES, REGBZ GUMBINNEN
von F.A. von Witzleben, Hauptmann im Generalstabe, Berlin 1846
Verlag von C. Heymann
Witzleben hat noch weitere Kreiskarten gezeichnet, so auch die vom Kreis Tilsit aus dem gleichen Jahr. In diesen Karten, die die nach den napoleonischen Kriegen erstmals in Preußen gebildeten neuen Verwaltungseinheiten abbilden, sind auch die Kirchspielgrenzen mit farbigen Umrandungen eingezeichnet. Die Karten findet man im Internet mit den Stichworten „Witzleben, Karte, Ragnit bzw. Tilsit“. Die alten Karten enthalten allerdings auch die „alten“ Ortsnamen mit meist litauischen Wurzeln. Zum leichteren Suchen (vor allem für jüngere Leser) nenne ich im Folgenden nochmal alte und neue Ortsnamen mit einem Schrägstrich getrennt.
Im Kreis Tilsit gab es laut Karte die Kirchspiele Coadjuthen, Piktupönen, Willkischken und Plaschken nördlich der Memel und das Kirchspiel Tilsit zu beiden Seiten der Memel. Im Kreis Ragnit waren es Ragnit und Wischwill beidseits der Memel sowie Budwethen / Altenkirch, Kraupischken / Breitenstein, Lengwethen / Hohensalzburg und Szillen / Schillen südlich der Memel. Alle hier genannten Kirchspiele bestanden vor 1800.
Das Bevölkerungswachstum und die weiten Fußwege ließen im neunzehnten Jahrhundert neue Kirchengemeinden entstehen, die man auch in Genwiki im Internet findet: Jurgaitschen / Königskirch, Schmalleningken, Rautenberg, Pokraken / Weidenau, Groß Lenkeningken / Großlenkenau, Nattkischken, Rucken und Laugszargen. Ab 1900 kamen noch hinzu: Szugken, Wedereitischken / Sandkirch, Trappönen / Trappen, Neu Argeningken / Argenbrück und Pogegen.
Damit waren die Kirchwege nun für viele erträglicher geworden. Bis zum „eigenen“ Kirchturm ging der Blick jetzt nur noch bis zu fünf und in wenigen Fällen sieben Kilometer. Waren es ursprünglich 11 Kirchenorte in den alten Kreisen Tilsit und Ragnit, so gab es zuletzt 24, davon 11 im Kreis Tilsit-Ragnit, 11 im Kreis Pogegen, 1 im Kreis Niederung / Elchniederung und 1 im Kreis Pillkallen / Schloßberg.
In den Städten Tilsit und Ragnit gab es mehrere Kirchengemeinden oder Pfarrbezirke, u. a. jeweils eine „Landgemeinde“ für die angrenzenden Orte, eine besondere litauische Gemeinde und Garnisonsgemeinden, da beide Städte Militärstandorte waren. Jede Gemeinde hatte ihre eigenen Kirchenbücher, was die Suche nach Einträgen nicht besonders leicht macht.
Zur Kirchengemeinde Ragnit Land gehörten bis 1895 auch: Bambe / Heidenanger (148 Einwohner im Jahr 1900), Dirwonuppen / Ackerbach (104), Groß Lenkeningken / Großlenkenau (546), Jucknaten / Fuchshöhe (79), Klein Lenkeningken / Kleinlenkenau (95), Gutsbezirk Lenken (105), Gutsbezirk Lobellen (163), Nettschunen / Dammfelde (212), Raudszen / Rautengrund (445), Reisterbruch (192) sowie Unter Eißeln / Untereißeln mit den Ortsteilen Anmemel, Weide und Trakas / Abbau (1.052) und die Försterei Dachsberg sowie die Waldwärterei Schillis.
Die Seelsorge in den von Ragnit entfernten Gemeinden erfolgte teils in den dortigen Schulgebäuden. Der Hilfsgeistliche aus Ragnit kam also sonntags für einen deutschen und einen litauischen Gottesdienst nach Groß Lenkeningken und musste sich sputen, um den Nachmittagsgottesdienst in Ragnit zu halten. Zum 1. Mai 1896 zog der Hilfsprediger nach Groß Lenkeningken um und zum 1. Dezember 1897 entstand das neue Kirchspiel – ohne eigene Kirche. Unter Eißeln hatte zwar die meisten Einwohner, Groß Lenkeningken lag aber zentraler. Mit dem Bau der Brücke bei Lenken über die Szeszuppe waren aus dem Kirchspiel Budwethen die Gemeinde Juckstein (14), der Gutsbezirk Adlig Juckstein mit Vorwerken Ackmenischken (224) und Dundeln (35) und dem Dorf Dundeln (16) sowie aus dem Kirchspiel Wischwill der Gutsbezirk Aszolienen (41), die Gemeinde Giewerlauken / Hirschflur (530) mit dem Ortsteil Birkalnis / Birkendell sowie die Förstereien Fuchswinkel und Katzberg hinzugekommen. Das Gut Aszolienen ging 1928 in der Gemeinde Raudszen auf. Die Aufzählung der Gemeinden ist damals unter Mitwirkung von Pfarrer Sinnhuber erstellt worden, die Einwohnerzahlen stammen aus gemeindeverzeichnis.de.
In dem erweiterten Ladenraum des Kaufmanns Lenkeit als provisorischem Betraum fanden 300 Personen Platz. Nach dessen Konkurs war Herr Kowalski Vermieter und nach einem Brand am 8. Mai 1899 baute man für 30.100 M ein eigenes Pfarrhaus, das am 3.11.1899 bezogen wurde. Baurat Taute aus Ragnit zeichnete für den Entwurf, Bauunternehmer war Herr Wannagat aus dem Ort. Ab dem 24.11. konnte man als Saal unentgeltlich einen Speicher des Kaufmanns Scherreiks nutzen. Vorher hatte man erst 450 M und beim zweiten Vermieter 600 M Jahresmiete gezahlt.
Wenn hier und im Folgenden Preise genannt werden, muss man sich dazu vor Augen halten: 1899 verdiente ein Lehrer in Sachsen als Einstieg 1.400 bis 1.800 und als Endgehalt 2.490 bis 3.600 M im Jahr! Ein Zigarrenarbeiter in Westfalen bekam 1913 nur 70 M monatlich, die Inventarversicherung setzte für ein Schlachtschwein 100 M an.
Die Überlegungen zum Bau einer eigenen Kirche fanden also in den Mitteln der Gemeinde ihre Grenzen. Sie trafen aber glücklicherweise zeitlich mit einem besonderen Ereignis zusammen. Am 18.01.1701 hatte sich in Königsberg Friedrich der III. von Brandenburg, Herzog in Preußen, selbst zum König Friedrich I. in Preußen gekrönt. Dies war entgegen dem Wortlaut kein Alleingang; mit dem habsburgischen Kaiser und den deutschen Fürsten gab es vorher diplomatischen Kontakt. 200 Jahre später war sein Nachfolger als preußischer König in Personalunion deutscher Kaiser. Auguste Victoria als Ehefrau von Wilhelm II. lagen die evangelischen Kirchen in Preußen besonders am Herzen. Auch in meiner Gemeindekirche in Löhne-Obernbeck gibt es eine von ihr mit Widmung versehene Bibel als Geschenk an die Gemeinde zur Kirchenweihe 1914. Landauf landab machte man sich Gedanken, wie das Jubiläum zu feiern sei. In Ostpreußen entstand die Idee, mit zehn neuen evangelischen Kirchen gleich mehrfach dieses Jubiläum zu würdigen. Zum Jubeltag trug man die Idee einer Stiftung vor und es bildete sich unter dem Protektorat Ihrer Majestät der Kaiserin und Königin ein Komitee aus hochgestellten Personen, ausgestattet mit Titeln wie Professor, Geheimrat, Kommerzienrat usw. In ihrem Schlussbericht von 1912 an Auguste Victoria haben sie in einer Bestandsaufnahme erfreut den Bau von 45 neuen Kirchen und 9 Kapellen in den 19 Jahren vor dem Jubiläumsjahr vermerkt. Sie verweisen aber auch auf Probleme, die sich aus der Sprache im Gottesdienst ergaben: in 19 der 38 Diözesen wurde von den Superintendenten (und wohl auch den Geistlichen) neben Deutsch als zweite Sprache Polnisch oder Litauisch verlangt! Entsprechende Sprachkurse waren an den Universitäten eingerichtet. Schließlich wird neben der Abwehr politisch „linker“ Strömungen aber vor allem ein Grund für das Vorhaben ausführlich herausgestellt: das Erstarken der römisch-katholischen Minderheit in Ostpreußen. Es werden Gemeinden namentlich im masurischen Teil aufgezählt, in denen sich der katholische Bevölkerungsanteil in den letzten zehn Jahren vermehrt und Grundstückskäufe zu auffälligen Besitzänderungen führten, wobei für einzelne Gemeinden auch entsprechende Hektarzahlen und Prozentwerte angeführt werden. Mit einem gewissen Neid beobachtet man die Förderung des Baus katholischer Kirchen selbst in kleinen Gemeinden durch Rom. Dem will man die Jubiläumskirchen entgegenstellen.
Man startet mit einem Grundstock von 100.000,- M aus zwei Einzelspenden und wendet sich im Mai mit einem Aufruf an die Gemeindepfarrer, der von vielen bekannten Namen unterzeichnet ist: Bismarck, Dönhoff, Dohna, Eulenburg, Lehndorff, von Sanden und weitere. Von Mai bis September 1901 ergibt sich nochmals etwa die gleiche Summe. Bis zur Schlussrechnung in 1912 sind es mit Zinsen fast 275.000 M geworden. Die Unterstützung an die Kirchengemeinden erfolgt nicht ohne Auflagen. Die Kirchen werden entgegen bisherigen Vorgaben der Behörden kleiner an Sitzplätzen ausgeführt. Statt 13/30 der Gemeindeglieder nur etwa 1/5 oder 1/6. An jeder Kirche wird ein von der Stiftung gestellter Kalkstein mit Gedenkinschrift angebracht. Die Bronzeglocken werden mit Ausnahme der Kirche in Korschen einheitlich bei dem Glockengießermeister Franz Schilling aus Apolda in Thüringen bestellt. Sie tragen die Aufschrift „Zur Erinnerung an die Jubelfeier des Königtums am 18. Januar 1901“, dazu das Allianzwappen beider Majestäten und die von den Gemeinden gewünschten Bibelsprüche. Die jeweiligen Gemeindeordnungen erhalten die Verpflichtung, künftig am 18.1. eines jeden Jahres die preußischen Farben Schwarz und Weiß zu flaggen und von 12 bis 1 Uhr mit drei Glocken zu läuten. Erste Gelder werden noch 1901 ausgezahlt. Bis 1907 werden bis auf eine Kirche alle Bauten beendet. Die letzte Kirche in Paszieszen im Kreis Heydekrug wird wegen eines Streits der Gemeinde über das Baugrundstück erst in 1912 fertig. Aus Restmitteln will man die Kirchenbauten zukünftig in der Unterhaltung unterstützen.
Auf der ersten Liste mit Gemeindenamen hatte Groß Lenkeningken noch nicht gestanden. Auf Antrag des Generalsuperintendenten kam es jedoch am 10.10.1901 ebenso dazu wie Nattkischken im späteren Kreis Pogegen. Im Ministerium der öffentlichen Arbeiten fertigte der Geheime Oberbaurat O. Hossfeld einen Vorentwurf, den der Kreisbauinspektor Labes in Ragnit weiter ausarbeitete, der auch die Bauleitung hatte. Am 12.07.1903 wurde der Grundstein gelegt und am 23.10.1904 konnten der Generalsuperintendent mit dem deutschen und der Superintendent Struck aus Kraupischken mit dem litauischen Gottesdienst die Kirche einweihen. In einem Artikel im Evangelischen Gemeindeblatt Königsberg i. Pr. vom 5.11.1904 wird darüber berichtet. Hans-Georg Tautorat hat ihn für das Ostpreußenblatt 1994 Nr. 31 auf Seite 10 gefunden, ein weiterer Abdruck findet sich im Land an der Memel Nr 55 von Weihnachten 1994. Erwähnt wird das Einweihungsgeschenk der Muttergemeinde Ragnit, zwei Kronleuchter. Und es werden die Bibelworte des Festtages mitgeteilt:
Psalm 122
„Herr, höre mein Gebet und lass mein Schreien zu dir kommen!“
Psalm 100, 4
„Gehet zu seinen Toren ein mit Danken, zu seinen Vorhöfen mit Loben; danket ihm, lobet seinen Namen!“
Hes. 3, 22-24
„Und daselbst kam des Herrn Hand über mich, und er sprach zu mir: Mache dich auf und gehe hinaus ins Feld; da will ich mit dir reden. Und ich machte mich auf und ging hinaus ins Feld; und siehe, da stand die Herrlichkeit des Herrn daselbst, gleichwie ich sie am Wasser Chebar gesehen hatte; und ich fiel nieder auf mein Angesicht. Und ich ward erquickt und trat auf meine Füße. Und er redete mit mir und sprach zu mir: Gehe hin und verschließ dich in deinem Hause!“
Die frohe Nachricht von der Fertigstellung der dritten Jubiläumskirche wurde dem Herrscherpaar telegrafisch übermittelt und auf gleichem Weg mit Segenswünschen beantwortet. Wegen der Baunässe wurde die Orgel erst im Juli 1905 von Bruno Göbel aus Königsberg fertiggestellt.
Die Kirche hatte bei aller Schlichtheit außen einen besonderen Schmuck, den man bei genauem Hinsehen auch auf den Bauzeichnungen erkennt: in runden Kartuschen zwischen den Fenstern der Seiten, über dem Eingang im Westen und am Turm im Osten waren sechseckige Sterne dargestellt. „Aus dem Hause Davids“ heißt es in der Weihnachtsgeschichte, also Davidsterne am Haus Gottes. 1933 wurden sie zu „Judensternen“ und auf Fotos der Kirche wegretuschiert. Hierzu hat Pfarrer Martin Lipsch (nach Namensänderung Martin Loseries) in Land an der Memel, Heft 86 von Pfingsten 2010 auf Seite 136 trefflich geschrieben. Auf den folgenden Seiten findet sich dann auch noch ein Trauschein vom 22.1.1906, unterschrieben von Pfarrer Sinnhuber. Das Pfingstheft 2011 hatte dann als Titel ein Farbbild der Kirche in ihrem frühen Zustand.
Die Kirche hat zuletzt rd. 63.100 M bei 654 Sitzplätzen gekostet, etwas mehr als das Doppelte des Pfarrhauses, das wahrscheinlich einen (Konfirmanden)saal hatte. 13.533 M hatte die Stiftung beigesteuert, 24.500 M waren ein sogenanntes „Allerhöchstes Gnadengeschenk“ des Königshauses, 19.000 M waren Mittel der Synode bzw. evangelischen Kirche und etwa 6.000 M waren demnach eigene Mittel des Kirchspiels. Die in 1914 in Löhne-Obernbeck im Kreis Herford geweihte Kirche hat vergleichsweise rd. 83.000 M bei 1.082 Plätzen (heute nach Umgestaltung 850) gekostet, die Jubiläumskirche in Korschen im Kreis Rastenburg rd. 51.200 M bei 300 Plätzen.
Günstige Baukosten je Sitzplatz in Großlenkenau ergaben sich sicherlich aus der baulichen Gestaltung. Der Kirchturm als sogenannter Chorturm im Osten bildete zugleich den Altarraum. Der Zugang mit drei gotischen Türbögen war von der gegenüberliegenden Giebelseite unter der Orgelempore mit Kreuzgewölben hindurchgeführt. Die bis zum Altarraum umlaufende Empore nahm allein 223 Sitzplätze auf. Dabei hat man sich mit einer ebenen Decke über dem Kirchenschiff begnügt.
Die Kirche bekam drei Glocken, deren einer Spruch im Bericht der Jubiläumsstiftung aufgrund eines Druckfehlers ein Rätsel aufgibt. Mein Cousin, ein pensionierter Pastor, gab mir einen Tipp: die drei Glockeninschriften sollten die Begriffe Glaube, Liebe und Hoffnung enthalten.
Glocke in as, 96 cm Durchmesser, 505 kg schwer
Brief Johannes 5, 4 (Abkürzung mit Druckfehler = Jos.)
„Denn alles, was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt; und unser GLAUBE ist der Sieg, der die Welt überwunden hat.“
Glocke in c, 75 cm Durchmesser, 255 kg schwer
Epheser 5, 2
„So seid nun Gottes Nachfolger als die lieben Kinder und wandelt in der LIEBE, gleichwie Christus uns hat geliebt und sich selbst dar gegeben für uns als Gabe und Opfer, Gott zu einem süßen Geruch.“
Glocke in es, 63 cm Durchmesser, 146 kg schwer
Römer 5, 2
„Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus, durch welchen wir auch den Zugang haben im Glauben zu dieser Gnade, darin wir stehen, und rühmen uns der HOFFNUNG der zukünftigen Herrlichkeit, die Gott geben soll.“
2.590,90 M hat das Geläut 1904 gekostet. Ob es wohl wie die Glocken meiner westfälischen Gemeinde für den Krieg eingeschmolzen wurde? Die Glocken standen im Intervall einer Quint und einer Terz. Beides ergibt den Grundakkord (Tonika) von As-Dur. Hinter dem Notenschlüssel stehen bei dieser Tonart vier kleine „b“. Wie es geklungen hat, kann man mit einem Computer nachempfinden. Die Firma Grassmayr aus Innsbruck gießt seit 1599 Glocken. Sie hat auf „grassmayr.at“ im Internet einen Glockensimulator. Man findet ihn unter „interaktiv – Glocken“: die vierte Glocke von rechts in der mittleren Reihe und die erste und vierte von links in der unteren Reihe, einzeln oder zusammen anklicken. Ich habe es mit den vier Glocken meiner Gemeinde Obernbeck (c-es-g-b) ausprobiert. Es klingt wie an Feiertagen bei geöffnetem Fenster!
Auch einige Handwerker und Lieferanten aus dem Kirchspiel waren am Bau beteiligt: Hundsdörfer mit Kleineisen, Milekopf mit Steinmetzarbeiten, Neufang und Schrader aus Dirwonuppen mit Granitsprengsteinen, Philipp mit Mauergrand, Wannagat mit Zimmerarbeiten und Wiesemann aus Untereißeln mit Fußreinigungsgittern. Den weitesten Weg hat die Christusfigur genommen; sie stammte aus St. Ulrich in Tirol. Wahrscheinlich hat es auch ein Bibelgeschenk der Königin gegeben, es wird aber im Bericht nicht erwähnt; vielleicht erfolgte es schon zur Gemeindegründung 1897.
Die Kirche hatte als Geistlichen anfangs Eduard Sinnhuber, ab 1912 Arthur Jakuszies, nur 1919 Johannes Neumann, ab 1922 Julius Kuptsch (vorher Kultusminister in Lettland), ab 1929 Siegfried Sprank und zuletzt ab 1931 Gerhard Walther. Es gab auch eine Gemeindeschwester namens Frieda. Herr Sprank gründete einen Posaunenchor, von dem Herbert Korth in Heft 48 zu Pfingsten 1991 berichtete. Herr Walther hat in Unter Eißeln weiter Hausandachten gehalten, womit er vor allem älteren Gemeindemitgliedern in Schneewintern im Wortsinne entgegenkam.
Nach dem ersten Weltkrieg wurde vor der Kirche ein Kriegerdenkmal errichtet. Die Namenstafeln sind nicht mehr vorhanden. Die Kirche wurde gerade einmal 40 Jahre alt. Am 15.10.1944 erfolgte die Räumung des Ortes, der letzte Pastor war zu der Zeit selbst Soldat. Martin Loseries berichtet zu Pfingsten 2009, 50 Jahre nachdem Pfarrer Walther 1959 in Perleberg verstorben war, ausführlich über das Mitglied der bekennenden Kirche. Er nennt als Ursache für die Zerstörung der Kirche die Sprengung durch eigene Truppen. Ernst Hofer meldet 1967 nur die Sprengung, ohne dafür Verantwortliche zu nennen. Eine weitere Version ist der Abriss als Baumaterial.
Die damalige Kirchspielvertreterin, Frau Jutta Wehrmann, erzählte mir in einem Telefonat, wie sie in dem großen Schutthaufen den achteckigen Taufstein wieder entdeckt hat. Sieben Schöpfungstage und der Tag der Taufe als Tag neuer Schöpfung sollen die Zahl Acht ergeben, schreibt Detlef Scheiding in seinem Buch. Nur mit einem kleinen Teil schaut der Stein auf dem Foto im Bildarchiv Ostpreußen im Internet aus den Trümmern hervor. Neunzig Jahre zuvor war er von der Firma Rudolph aus Görlitz geliefert worden. Erhard Motejat aus Giewerlauken / Hirschflur hat im Land an der Memel, Heft 51 von Weihnachten 1992 auf Seite 73 den Taufstein erwähnt und vorgeschlagen, ihn zu bergen. Den Finderlohn beanspruchen aber auch noch andere; Motejat war jedoch der erste, der davon im Land an der Memel berichtete. Der Stein wurde tatsächlich aus dem Schutt geholt, war eine Zeit in Ragnit bei einem Hotel im Hof und kam wieder ins heutige Lesnoje zurück. Frau Martha von Heydebreck hat ihn auch auf dem früheren Gut Lobellen gesehen. Auf Fotos von verschiedenen Seiten im Internet kann man den rundum laufenden Bibelspruch entziffern:
Lukas 18,16
„Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes.“
Das letzte Foto von dem Taufstein für Land an der Memel machte wohl Eva Lüders; im Weihnachtsheft 2011, Heft 89 auf Seite 38 ist er zu sehen. In Heft 91 von 2012 auf Seite 79 berichtete dann Gerda Friz von einer Erinnerungstafel, die am früheren Pfarrhaus und jetzigen Kindergarten angebracht werden sollte. Eine Tafel mit Angaben zur zerstörten Kirche hat das Museum in Ragnit erhalten.
Es bleibt zu hoffen, dass der Taufstein mit seinem Gotteswort am Ort der durch Menschenhand gebauten und durch Menschenhand zerstörten Kirche erhalten bleibt.
Quellen:
- Internet WIKIPEDIA, GENWIKI, gemeindeverzeichnis.de, digitale Ausgaben von Land an der Memel, Bildarchiv Ostpreußen, 07/2022
- AN MEMELSTROM UND OSTFLUSS, Ernst Hofer, Düsseldorf 1967
- DIE JUBILÄUMSKIRCHEN IN OSTPREUSSEN, Bericht des Verwaltungsausschusses, Berlin 1912, Kunstanstalt von Albert Frisch, Königl. Preuss. Hoflieferant
- „IHR WERDET STAUNEN…“, Detlef Scheiding, 2004, Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Obernbeck (Hg.)