Tilsit Stadt und Land

Ein Jahrmarktstag in Tilsit

In der ersten Woche im September begann meistens unser alljährliches Jahrmarktsfest. Die Verkaufsbuden standen in Dreierreihen die ganze Deutsche Straße entlang. Angefangen vom Deutschen Tor bis zum Fletcherplatz. Gleich am Anfang der Deutschen Straße in der Höhe Gaststätte Budwill stand der Spitzenjakob, Danach reihten sich Verkaufsbuden aller Art an. Uns Kinder interessierten in erster Linie die Spielwaren- und Süßigkeitsbuden
mit ihren Lebkuchenherzen und ganz besonders die Steinpflaster.
Der Jahrmarktslärm begann eigentlich schon hier zwischen den Buden. Es war ein Getröte und Geknalle. Ganz besonders gerne hantierten wir mit den Plettschkeflinten (Zündplätzchenpistolen) umher. An so einem Spielzeugstand gab es fast alles: von bunten Luftballons, Windmühlen, Brummkreiseln, Klimperleierkästen über Flöten und Tüten bis zu Puppen und und und … Am Schenkendorfplatz war ein großer Pöttemarkt. Da gabs vom Porzellan bis zum großen Steintopf alles. Kamen wir in die Nähe des Fletcherplatzes, wurde alles noch viel lauter. „Gleich kommen wir zum Radauplatz“, sagten wir. Dazu gehörte auch der Schloss- und Ludendorffplatz. Hier waren die Schau-, Los- und Schießbuden sowie Karussells bis hin zur Achterbahn. Am Samstagnachmittag war überall ein großes Gedränge. Es waren Besucher aus der Stadt und vom Land gekommen. Wir waren fünf Schulfreunde, und wir hatten schon so ziemlich alles gesehen, auch die Steilwandfahrer (die roten Teufel), die an der sechs Meter hohen steilen Wand mit ihren Motorrädern derart rauf und runter rasten, dass die Steilwand wackelte. Jahrmarkt auf dem Fletcherplatz, wie ihn die Tilsiter kannten. Als wir an das Kettenkarussel kamen, hatte unser Freund Kurt Ewert einen tollen Einfall, der nicht ohne Folgen bleiben sollte. Kurt war etwas begüterter als wir. Seine Eltern hatten einen Kolonialwarenladen und eine Kohlenhandlung. Sein Taschengeld betrug immer ein paar Dittchen mehr. Er meinte folgendes: „Wir fahren jetzt alle Kettenkarussel, wer von euch am längsten aushält ohne schwindelig zu werden, dem bezahle ich alle Runden, die er gedreht hat. Toll, dachten wir, nichts wie rein. Alle haben Platz genommen, Sperrkette zu, ab gings. Einmal, zweimal, ja wir zählten sieben oder gar acht Mal, beim neunten Mal wurde es uns schon ein bisschen komisch etwas im Kopf sowie auch in unserem Bauch. Wir konnten die Umgebung nicht mehr richtig wahrnehmen und hatten die Orientierung verloren. Mein Gott, ist mir schlecht, dachte ich. Als die nächste Runde kam, fragte Kurt „Könnt ihr noch?“ „Ja, ja“, keiner wollte aufgeben. Dann passierte es. Da wir vorher Würstchen, Steinpflaster, alle möglichen Süßigkeiten gegessen und Brause getrunken hatten, drehte sich nicht nur das Karussell, sondern auch unser Magen. Die Wangen wurden immer dicker, ein übles gleichgültiges Gefühl kam auf. Der Druck war so groß geworden, dass wir den Inhalt nicht mehr halten konnten. Wir prusteten alles heraus, schön gleichmäßig über die Köpfe der unter uns promenierenden Jahrmarktsbesucher. Panik, Schreck und Fluchen brach da unten los. Torkelnd verließen wir das Karussellpodium, kullerten zum Teil die Stufen hinunter. Die Passanten, die am meisten abbekommen hatten, wollten uns gleich vertrimmen. Aber die Kassierer vom Karussell stellten sich schützend vor uns. Sie meinten nur, das könnte jedem mal passieren. Logisch, die hatten durch uns ganz schön Kasse gemacht. Wir rappelten uns langsam auf und torkelten in Richtung Memelufer. Auf dem Anlegesteg vom Tilsiter Ruderclub legten wir uns nieder. Das Taschentuch, in der Memel nass gemacht, legten wir uns auf die Stirn und glaubten damit Linderung zu bekommen. Wie war uns schlecht. Wie wir so auf den Planken lagen, ging das Karussellfahren von neuem los. Blickten wir zur Königin-Luise-Brücke herüber, drehte sie sich mit uns. Blickten wir zur Ordenskirche, dachten wir, sie fällt auf uns herab. Es dauerte schon eine Weile, bis die Normalität wieder zurückkehrte. Ganz langsam gingen wir zurück zum Radauplatz. Wieviele Runden wir eigentlich gefahren sind, konnten wir nicht mehr feststellen, aber Kurt hat für uns alle die Rückfahrt nach Hause mit der Elektrischen bezahlt. Noch lange haben wir an die katastrophale Karussellfahrt gedacht und uns amüsiert.
Alfred Pipien