Tilsit Stadt und Land

Industrie und Handwerk in Tilsit

Ausschlaggebend für die industrielle und die Handwerkliche Entwicklung Tilsits war die die ausgesprochen günstige Verkehrslage. Hier kreuzten sich der Landweg von Süd nach Nord, von Mittel- und Ostdeutschland zum Baltikum und Rußland und der Memelstrom, ein Handelsweg von der Ostsee in die Tiefen der russischen Westgebiete. Auch die Brückenlage spielte dabei eine Rolle. Zwischen den diluvialen Höhen im Osten und der versumpften Memelniederung im Westen war nur ein kleiner Abschnitt der Memel geeignet für einen Brückenschlag.

Dieser Brückenschlag begünstigte den Handel, das Handwerk und in der weiteren Folge die Entwicklung der Industrie. Die Wälder Rußlands boten einen unerschöpflich fließenden Zustrom von Holz.

Sägewerke, Zellstoffindustrie, Tischlerei und Zimmerei entwickelten sich. Essigfabrik, Zuckerfabrik, Tilsiter Aktien Brauerei TAB, Eisengießerei und weitere Industriebetriebe prägten das Tilsiter Hafen- und Industrieviertel. Die von der Natur zugewiesene Brennpunktlage begünstigte die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt. Tilsit musste aber auch mit Grenzlagen fertig werden, die das wirtschaftliche Leben gefährdeten. Ein geistig reges, liberales, fortschrittliches Bürgertum verstand auch in solchen Gegebenheiten Handel und Industrie anzupassen und zu entwickeln.

In die Tilsiter Aktien Brauerei zieht neues Leben ein
Hans Dzieran
Zu den Tilsiter Dominanten zählte zweifellos auch der hochaufragende rote Backsteinturm der Tilsiter Aktien-Brauerei. Gelegen am Memelufer sandte er mit seiner markanten Wetterfahne einen Gruß an alle, die mit dem Schiff auf dem Memelstrom oder mit dem Pferdegespann über die Luisenbrücke nach Tilsit kamen.

Backsteinturm der Tilsiter Aktien-Brauerei im Jahr 2010
Ehemalige Gebäude der Tilsiter Aktien-Brauerei      Foto Rosenblum 2010

Im Jahre 1827 errichtete Louis Geiger an der Ragniterstraße, Ecke Fleischerstraße eine Brauerei, die als Vorläufer der TAB, der Tilsiter Aktien-Brauerei gilt. Sie wurde 1871 gegründet. Man bezeichnete diese Zeit in Deutschland als die „Gründerjahre“.
Auf dem 1,5 ha großen Firmengelände entstand der Bau einer modernen Brauerei mit Sudhaus, Maschinenhaus, Abfüll- und Reinigungsanlagen für Fässer und Flaschen, Eiskeller, Bürohaus, zwei Direktorenwohnungen sowie geräumigen Stallungen. Die offizielle Firmenanschrift lautete jetzt Teichstraße 14-17.

Umzug am 1. Mai 1933 mit Wagen der Tilsiter Aktien-BrauereiMehrere Dutzend schwere Brauereipferde waren vorhanden, um mit Pferdewagen die Gaststätten in Tilsit und in den Dörfern der Umgebung zu beliefern, Fässer zum Bahnhof und Bierkästen zu den Kunden zu transportieren. Für weiter entfernt liegende Ortschaften des Kreisgebiets Tilsit-Ragnit wurden später Lastkraftwagen der Firma Büssing NAG eingesetzt. Zur Besatzung gehörten der Fahrer und ein Beifahrer, der auch die geschäftlichen Angelegenheiten mit den Gaststätten regelte. 
Foto oben: Umzug am 1.Mai 1933 mit Wagen der Tilsiter Aktien-Brauerei in der Hohe Straße

Der fiskalische Hafen Tilsit im Winter

Der fiskalische Hafen im Winter.
Im Hintergrund die Tilsiter Aktien-Brauerei (TAB)
Foto: Rudi Waitschies

 

 

Die Eisgewinnung erfolgte auf dem Mühlenteich. Die Eisblöcke wurden in viereckige Stücke gehauen und auf Kastenschlitten geladen. Der Transportweg vom Mühlenteich zur Brauerei war nicht weit. Über Luken und Förderrollen gelangte das Eis in das Innere der Eiskeller.
Werbeanzeige der TAB Brauerei Tilsit

Diese Werbeanzeige zeigt die ganze Produktpalette der Tilsiter Actien-Brauerei. Sie erschien
großformatig in der Jubiläumsausgabe „50 Jahre TILSITER ALLGEMEINE ZEITUNG am 15. August 1931.

In den dreißiger Jahren wurde die stattliche Menge von 2,2 Mio Liter Bier pro Jahr erzeugt. Zur Produktpalette gehörten Pilsener, Weißbier, Malzbier, Karamelbier und auch Selters-Mineralwasser.
Die Tilsiter Aktien-Brauerei verfügte über ein beträchtliches und breit gestreutes Aktienkapital. Zahlreiche Kleinanleger erwarben Anteilscheine im Wert von 1000 Reichsmark. Sie waren mit Dividenden bis zu 15 % hochrentabel.

Aktie 1000 Reichsmark der Tilsiter Actien Brauerei

Die Bierherstellung wurde im Herbst 1944 eingestellt. Auf dem Firmengelände Teichstraße 14/17 wohnten bis zur Räumung Tilsits der Brauereidirektor Paul Krause und der Braumeister Otto Schmidt mit ihren Familien. Direktor Paul Krause fiel am 7. April in der Festung Königsberg, seine Ehefrau Martha, geb. Hildebrandt verstarb am 6. Januar 1945 auf der Flucht. 

Unter russischer Verwaltung wurde das Firmengelände zum Gewerbegebiet. Eine Brotfabrik, eine Bootswerft und ein Baustoffhandel siedelten sich an. Von der Vergangenheit kündete nur der Brauereiturm aus gebrannten Backsteinen mit seiner Wetterfahne und den neugotischen Schmuckelementen. An den Eckvorsprüngen des monumentalen Turms sind Kreuze dargestellt, die in Rhomben eingeschlossen sind. Die Trommel, die die Wetterfahne trägt, ist mit bunten Klinkerriemchen verkleidet. Auf dem roten Grund sind kreisförmig um den Turm herum ornamentale Gürtel von gelber und braunvioletter Farbe gelegt. Der Bau wurde zwar zum regionalen Kulturerbe erklärt, doch dabei blieb es lange Jahre. Für eine Wiederbelebung der Brauerei fehlte es an Geld und Unternehmergeist.

Doch nun ist neues Leben in die Gemäuer eingezogen. Im Rahmen des „regionalen Programms zur Unterstützung des Unternehmertums“ baut ein junges Team unter Leitung von Rinat Sharafutdinov die Fabrik TILSITKRONE auf. Im historischen Sudhaus sind alle Vorbereitungen für den baldigen Fertigungsbeginn getroffen. Tankbehälter und Brauereiausrüstung wurden aus heimischer Produktion von einem Betrieb im Ural geliefert. Lieferverträge mit den bayerischen Lieferanten Weyermann aus Bamberg und BarthHaas aus Nürnberg sorgen für Hopfen und Malz, Hefe kommt aus Belgien. Unter dem Logo TILSITKRONE werden nach traditionellen Technologienfermentierte Getränke gebraut, vor allem das in Russland beliebte Kwas. Ursprünglich im slawischen Raum als Brotgetränk bekannt ist Kwas heute in Farbe und Geschmack mit Malzbier vergleichbar, allerdings ist Kwas nicht so süß. Er besitzt dafür einen leichten Zitronengeschmack, der an Radler erinnert. Kwas soll sehr gesund sein. Er fördert die Verdauung, ist gut für den Stoffwechsel und das Herz-Kreislaufsystem und wirkt antibakteriell.
Das Projekt, welches mit einem zinslosen Darlehen gefördert wird, sieht auch die Gestaltung eines „Kwasnaja Platz“ vor.


Modell für die Neugestaltung des Kvasnaja Platzes

Modell des „Kvasnaja Ploschad“                                                                 Foto OOO Sajan

Unter diesem Namen entstehen auf dem Firmengelände ein Freiluftrestaurant, Ladenzeilen und ein Springbrunnen. Sie sind als touristische Attraktion gedacht und warten auf Besucher, denen Betriebsbesichtigungen und Getränkeverkostungen angeboten werden. Eine Ausstellung vermittelt einen Rückblick auf die Zeit, als vor zweihundert Jahren alles begann. Die Betreiber wollen an die historische Vergangenheit der Tilsiter Braukunst anknüpfen und die Tradition der TAB in die Zukunft führen.    

Urheberrechtlicher Vermerk: 
Eine Erstveröffentlichung des Beitrags ist in gekürzter Form in der Ausgabe 6/2022 der PAZ erfolgt.