Ein Nachruf von Bernd Polte
„Der Herr ist mein Hirte. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. In deinem Haus darf ich nun bleiben“. (Psalm 23, nach Übersetzungen 1982, 1985)
Die Stadtgemeinschaft Tilsit erhielt die traurige Nachricht, dass eines ihrer ältesten Mitglieder, unser Landsmann Jürgen Semlies, geboren am 26.12.1920 in Tilsit, am 24.Oktober 2022 im 102. Lebensjahr, in Hamburg verstorben ist.
Jürgen Semlies war das zweitjüngste Kind des Tilsiter Konrektors der Meerwischer Schule Paul Semlies und der Lehrerin Lydia Maria Semlies, geborene Radtke. Sie wurde am 17.09.1883 in Pautkandszen, Kirchspiel Kraupischken, Kreis Ragnit, geboren und besuchte in Berlin als eine der ersten Frauen das Lehrerinnenseminar. Zur Familie gehörten 3 Mädchen und 3 Jungen, die in Tilsit in der Luisenallee 4 aufwuchsen. Sein Vater, gebürtig 1878 in Alt-Karzewischken, im memelländischen Teil des Kreises Tilsit, besuchte das Lehrerseminar in Ragnit und war bis zu seinem frühen Tode am 17.07.1930 in Schwarzort als Konrektor und Musiklehrer an der Meerwischer Schule in Tilsit tätig. Dort betreute er den bekannten Kinderchor dieser Schule und einen weiteren Tilsiter Chor. Er gab als „Chormeister“ viele Konzerte, selbst das Funkhaus Königsberg lud seinen Chor ein. Dem „Semlies´schen Kinderchor“ gehörten über 70 Kinder der Schule an, darunter seine Kinder Ursula, Annemarie, Renate und Jürgen Semlies. Mit seinem Chor trat er 1930 zur Überreichung der Tilsiter Ehrenbürgerwürde an die 1858 in Tilsit geborene ostpreußische Dichterin Johanna Wolff auf. Viele ihrer lyrischen Texte vertonte er. Diesen Auftritt begleitete die Tilsiter Autorin Charlotte Kayser auf der Laute. Es war der letzte Auftritt des Meerwischer Kinderchores. Mit dem Tode von Paul Semlies erlosch die Tätigkeit des Meerwischer Kinderchores, dessen Herz und Seele Paul Semlies war. 1943 wurde der Meerwischer Schule der Name der Dichterin Johanna Wolff verliehen. Auf dem Grabstein von Paul Semlies auf dem Tilsiter Waldfriedhof standen ihre Worte: “Nimmermehr sollst du verklingen, Lied vom deutschen Lande“.
Jürgen Semlies besuchte das Tilsiter Gymnasium, obwohl seine alleinerziehende Mutter es mit 6 Kindern sehr schwer hatte und er als Gymnasiast viele Entbehrungen inmitten der begüterten Mitschüler hinnehmen musste.
Seine ältere Schwester, Ursula Meyer-Semlies, ist vielen älteren Tilsitern bekannt. In den 1970er und 1980er Jahren schrieb sie Beiträge im „Tilsiter Rundbrief“ zu ihrer Heimatstadt. Diese Berichte von der Stadt Tilsit und der Königin-Luise Schule zeugten von großer Heimatverbundenheit und hervorragender Kenntnis ihrer Heimatstadt. Zwei Bücher verfasste sie über die ostpreußische Heimat. Das Bekannteste ist “In den Memelwiesen“ -Berichte aus einer ostpreußischen Familienchronik. Für ihre verdienstvolle Arbeit, auch zur Bewahrung des ostpreußischen Erbes, wurde sie mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Auch die ältere Schwester Annemarie Plagemann-Semlies veröffentlichte in unserer Heimatschrift.
Nach bestanden Abitur 1939 musste Jürgen Semlies, wie viele junge Männer seines Jahrganges 1920, ab 1939 in den mörderischen Krieg ziehen. In einem der vielen ostpreußischen Truppenteile hat er sechs Jahre an den verlustreichen Schlachten ab Juni 1941 im Norden der russischen Ostfront teilgenommen. Zeit seines Lebens hat er diese Ereignisse seiner gestohlenen Jugend nicht vergessen, sie prägten seine Einstellungen und sein Handeln in der zweiten Heimat, die er in Hamburg fand. Das Elend und den Verrat an seiner Generation hat er schriftlich für die Nachgeboren in seinen Erinnerungen festgehalten.
Seine Mutter flüchtete mit ihren Kindern im Herbst 1944 aus Tilsit nach Hamburg. Dort ist sie 85-Jährig im Juni 1968 verstorben. Jürgen Semlies trat in die Fußstapfen seiner Eltern und wurde im kriegszerstörten Hamburg Haupt- und Realschullehrer, dazu hatte er sich entschieden und blieb es sein ganzes Dienstleben. Als Lehrer genoss er bei seinen Schülern eine hohe Anerkennung, wovon viele jahrzehntelange Kontakte zu ihnen zeugten. Mehrere ehemalige Schüler nahmen an seiner Beisetzung am 19.11.2022 auf dem Friedhof Hamburg-Ohlsdorf teil. Seine Schüler zu motivieren, zu integrieren, zu fordern und zu fördern war sein Berufsethos. Erfolgreich setzte er sich in einer Hamburger Kommission zum Aufbau einer Gesamtschule im Stadtstaat ein. Die Verbesserung schulischer Chancen für Schüler aller gesellschaftlichen Schichten lag ihm, auch aus eigener schulischer Erfahrung, am Herzen. In der Hamburger Lehrergewerkschaft GEW war er das älteste aktive Mitglied und gehörte dieser über 70 Jahre an.
Im Nachkriegs Hamburg lebte er mit seiner Frau Ortrud, geborene Goetzke, einer 1925 geborener Tilsiterin, mit einem geringen Gehalt und Baby „auf Zimmer“. Später bekam die Familie eine Wohnung, in der er nach dem Tode seiner Frau 2001, allein wohnte. Er hinterlässt seine beiden Kinder Peter und Monika Semlies. Seine Tochter Monika und Sohn Peter wurden wie ihr Großvater und Vaters Lehrer und waren als Gymnasiallehrer am Hamburger Wirtschaftsgymnasium und am Elmshorner „Bismarck Gymnasium“ tätig.
Mit Herrn Jürgen Semlies hat uns ein Tilsiter der Erlebnisgeneration verlassen. Er und seine Geschwister haben aktiv das Vermächtnis ihrer Heimatstadt bewahrt und nachfolgenden Generationen vermittelt.
Die Stadtgemeinschaft Tilsit verbeugt sich vor unserem verstorbenen Mitglied.
In anerkennendes Gedenken nehmen wir Abschied von Jürgen Semlies.
Bernd Polte
Stadtvertreter
Vielan Dank für diesen schönen Bericht. Ich bin eine ehemalige Schülerin, die wie beschrieben, bis zuletzt Kontakt zu Jürgen hatte, Einige Tage vor seinem Tod habe ich ihn noch besucht (zum Glück). Er war ein wunderbarer Lehrer und Mensch. Ich denke gerne an ihn zurück. Zusammen mit ehemaligen Mitschülerinnen haben wir Abschied genommen.
Danke Jürgen Semlies.