Orte der Trennung und Einheit in Europa

Die Königin-Luise-Brücke über die Memel und die Glienicker Brücke über die Havel im neuen Licht
Für Tilsiter, für die Stadtgemeinschaft Tilsit e.V. (SGT) erzeugt die Tilsiter Brücke über die Memel, die den Ehrennamen der jungen, tapferen preußischen Königin Luise trägt, immer ein tiefes Durchatmen, selbst dann, wenn sie nicht unmittelbar, sondern durch eine historische Brille betrachtet wird.
Mit Unterstützung der SGT und durch Jakob Rosenblum, dem Fotokünstler in Tilsit und Mitautor des bereits in dritter Auflage erschienenen russisch-sprachigen und in Übersetzung für eine deutsche Ausgabe befindlichen Bildbandes „Tilsitskyje Dominanty“ wurde die Tilsiter Memelüberquerung in einen Vergleich zur Potsdam-Berliner Glienicker Brücke gesetzt. Im Potsdamer Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (HBPG) fand am 6. Oktober ein „Brücken-Vergleich“ statt. Er scheint ungewöhnlich, und doch ist er mitten in deutscher und europäischer Geschichte angesiedelt. Die Autorin Ulla Lachauer und die Historikerin Florentine Schmidtmann, moderiert durch den Historiker Thomas Wernicke, wagten sich an diesen Vergleich zweier Brücken mit Vorträgen und Fotos, die für uns Tilsiter das Herz weich und wehmütig machen, gleichzeitig öffnen für die Möglichkeiten einer friedensstarken Zukunft.
Für die Historikerin Schmidtmann ist der Weg vom HBPG zur Glienicker Brücke nur ein Katzensprung. Nicht nur, dass sie Berlin und Potsdam auf kürzestem Wege miteinander erreichen lässt, sondern sie ist auch das verbindende Element der Teile der bereits 1990 erfolgten ersten Eintragung eines Kulturobjektes im Beitrittsgebiet in die UNESCO-Welterbeliste. Einen Kulturtransfer besonderer Art veranschaulicht die 1826 bis 1827 angelegte Russische Kolonie Alexandrowka in Potsdam. Als Kunstdorf mit 14 Gehöften und einer Kapelle nach Plänen des Gartenarchitekten Peter Joseph Lenné erinnert sie an intensive russisch-preußische Beziehungen. Noch dazu entstand unter Kaiser Wilhelm II. in den Jahren 1905 bis 1909 sogar eine Hofstation der Eisenbahn, der heutige Kaiserbahnhof, auf dem Zar und Kaiser sich treffen konnten.
Heute wird das Gebäude von der Führungsakademie der Deutschen Bahn genutzt. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts zerbrachen die 1000-jährigen fruchtbringenden Kooperationen zwischen dem Zaren- und dem Kaiserreich folgenschwer. Die Glienicker Brücke wurde nach dem Zweiten Weltkrieg für mehr als vier Jahrzehnte vor aller Augen der Welt manifestiertes Symbol der Trennung Europas.
In derselben Zeit des Kalten Krieges erlangte die Königin-Luise-Brücke in Tilsit eine ganz andere Bedeutung. Freilich wurde sie in derselben Zeitepoche erbaut wie der Potsdamer Kaiserbahnhof. Aber ein Symbol für die preußisch-russischen Beziehungen war sie höchstens mit ihrer Sprengung durch die Wehrmacht kurz vor Kriegsende geworden. Sie diente nach ihrem zweimaligen Neubau als Brücke dem innersowjetischen Verkehr, zur Versorgung der Militärbasis in Königsberg und nach dem Beitritt der Republik Litauen zur EU als deren Brücke von und zur Russischen Föderation.
Heute bleibt das Auge an den herrlichen, vorbeifließenden ostpreußischen Wolken hängen, schaut auf kleine, manchmal tosende Wellen des schönen Memelflusses, ob nun in Tilsit gen Norden oder in Übermemel gen Süden geblickt. Lauchauer führt zu Tilsit aus: „Die preußische Stadt lebte vom Transit, der Handel prägte Stadtbild und Einwohnerschaft. Das Fremde war ihr Lebenselement. Mit zwinkerndem Auge fragt sie das kenntnisreiche Publikum, ob es vielleicht den Satz des Tilsiter Dichters Johannes Bobrowski kenne, der ‚um die Memel herum aufgewachsen‘ sei, ‚wo Polen, Litauer, Russen, Deutsche miteinander lebten, unter ihnen allen die Judenheit.‘ ‚Über diese Einheit, die die Stadt viele Jahrhunderte prägte, werde nicht einmal mehr geredet. Sie in das Gedächtnis der europäischen Kultur zurückzuholen, sei dringendes Bedürfnis‘.
Beide Brücken tragen Lasten, die vieles miteinander gemein haben: Trennen und Verbinden zweier Ufer, sogar zweier politischer Systeme; vom jeweils anderen Ufer winken sich Familienangehörige zu; Partner, die nicht zueinanderkommen dürfen; die Brücken richten ihre Köpfe jeweils dicht auf des Feindes Nacken – Militärblöcke starren sich an.
Zwischen beiden Brücken spannt sich eine geographische Distanz von rund 850 Kilometern. In dieser Spannung liegen Schicksale, vor allem die schrecklichen des 20. Jahrhunderts: In die eine Richtung, später in Gegenrichtung, marschierten Militärkolonnen, Gefangene, Zwangsarbeiter, Opfer zweier Doktrinen und Diktaturen, Evakuierte, Flüchtende, Deportierte und Vertriebene. Von ihren Schicksalen sprechen die steinernen Pfeiler und stählernen Bögen, die sich eine glücklichere Zukunft wünschen. Diesem Wunsch dürfen wir, insbesondere die SGT gemeinsam mit den Einwohnern und unseren Partnern in Tilsit erhoffen.
Heute schon können die Besucher der Stadt die Tilsiter Tram auf der Hohen Straße bewundern – morgen vielleicht fährt sie über die Königin-Luise-Brücke nach Litauen und bringt die Botschaft des Kant’schen Ewigen Friedens vom Ideengeber der Haager Landkriegsordnung in die Europäische Union zurück.

Günter H. Hertel, Pressesprecher der Stadtgemeinschaft Tilsit e.V.
Quelle: © Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-21 vom 19. November 2021, Online-Ausgabe; exzerpiert by Guenter.H.Hertel_IBH@web.de am 18.11.2021 um 00:27 Uhr

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